•Heimatkörper•

Die Ausstellung

„Heimat“ ist eigentlich etwas ganz Persönliches. Sie stellt sich als Gefühl, als Identifikation mit der Familie, dem Ort der Geburt und des Aufwachsens, dem Land und dessen Landschaft, der Sprache und Kultur, der eigene Lebensgeschichte, Erinnerungen und Erwartungen. nur im Einzelnen her. Deshalb nennt Joey Arand, die sich dieses Thema für ihren dreimonatigen Aufenthalt in der Künstlerkolonie vorgenommen hat, auch „Heimatkörper“. Gleichwohl ist „Heimat“ auch ein ideologischer Begriff, der oft missbraucht wurde und wird.

Joey Arand geht „den Weg zur Heimat“ noch einmal nach und beginnt deshalb im Kinderzimmer. So macht sie Spiele-Teppiche und Krabbeldecken, wie sie jeder kennt, zu einem „Spielplatz“ unterschiedlichster Fragestellungen. „Wo wohne ich? Was sind meine Markierungspunkte? In welchen Beziehungen stehen sie und zu wem? Was für Bezugssysteme sind das dann? Und wie intensiv nehme ich sie wahr? Welche Werte bauen sich auf und zeigen sich? Was ist sichtbar und was unsichtbar oder vielleicht sogar tabu?

Joey Arand kam als „Fremde“ nach Willingshausen. Im Gepäck hatte sie: „meine Heimat ist Karlstadt“. Mit einem Vergleich Karlstadt – Willingshausen beginnt die Ausstellung auch. Aber im ersten Spiel schon ersetzt sie die kindliche Motivik der Spiele-Teppiche durch Satellitenbilder aus dem Internet. Die Spielfiguren, die sie mit Kindern aus Willingshausen hergestellt hat, sind keine Stellvertreter-Püppchen sondern stellen bereits typische Situationen dar, in denen die Kinder „sich zu Hause fühlen“. Ihre Figuren dagegen stellen Szenen dar, die sie im Dorf gehört und wahrgenommen hat. Diese Spiele von Joey Arand sind keine Würfelspiele, es geht nicht um Gewinnen oder Verlieren, sondern um das Markieren der eigenen Verknüpfungen mit farbigen Fäden oder bunten Klebepunkten. Die Regeln des Spiels sind also ein Recherchieren, Nachdenken und Feststellen des eigenen, sehr persönlichen Bezugssystems, ein Wahrnehmen und Ernstnehmen des eigenen „Heimatkörpers“ – und ein gemeinschaftlicher Austausch darüber. Zwar hängen die Teppiche an der Wand wie Bilder, sie sollen aber abgenommen werden, um damit gemeinschaftlich auf dem Boden zu „spielen“.

Wie man seiner Heimat nicht entkommen kann, sagt Joey Arand, „soll auch niemand aus dieser Ausstellung rausgehen, ohne mitgespielt zu haben“. Denn erst dadurch entsteht die Ausstellung als ein durch die Besucher hergestelltes Kartogramm – oder als das Röntgenbild des „Heimatkörpers“.

Joey Arand macht also keine Bilder, sondern schafft Situationen, in denen partizipatorisch Bilder entstehen. Ihre Kunst ist Forschung. Sie reist sehr gerne, aber nicht um Urlaub zu machen, sondern um neue, andere Menschen und ihre Kulturen kennenzulernen. So hat sie Monate auf der französischen Insel Réunion, in Indien und im Iran verbracht. Immer hat sie dort existentielle Themen aufgenommen, an denen sich Grundwerte des kulturellen Verhaltens formulieren. Im Iran war es das Kopftuch oder vielmehr das verborgene Haar, das sie in intimen Frauenporträts diskutierte. Im Rahmen der Ausstellung „im Dickicht der Haare“ in der Grimmwelt Kassel hat sie letztes Jahr anknüpfend aus den Haaren von Besucher/innen Fäden gesponnen, aus denen sie dann ein „Haartuch“ gewoben hat. Joey Arand recherchiert immer sehr intensiv und genau, so dass ihre künstlerischen Arbeiten, meist Fotografien und Filme, aber auch Installationen, ihre Kraft und Poesie aus dokumentarischem Material entwickeln. Ihre jüngste Arbeit ist der 60-minitüge Dokumentarfilm „Gebär_Mütter“, der sich mit Leihmutterschaft in Indien auseinandersetzt.

Bernhard Balkenhol, Kurator

Joey Arand bleibt auf dem Teppich

Die Künstlerin

Joey Arand, 1990 in Karlstadt geboren, studierte Film bei Jan Peters und Volko Kamensky sowie Trickfilm bei Martina Bramkamp an der Kunsthochschule Kassel. Seit April 2017 ist sie Meisterschülerin bei denen. 2013/14 erhielt sie ein Reisestipendium des Deutsch-Französischen Jugendwerks, das sie auf die Insel Réunion führte, 2015/16 Hessische Filmförderung, 2016 Reisekostenunterstützung der Universität Kassel (SHOSTA) für das Projekt „Gebär_Mütter und das Otto-Braun-Abschluss-Stipendium. Sie war mit ihren Filmen u.a. vertreten auf dem Kasseler Dokumentarfilm und Videofest, dem Hessischen Hochschulfilmtag, dem GoEast Wiesbaden und im Filmmuseum Frankfurt. Den 1.Platz des Bundesjugendfestival Film 2015 erhielt sie für „Video der Generationen“, den 1.Platz der Jugendstiftung Mainspessart 2016 für das Projekt „Haartuch“. Seit 2015 sind Ihre Arbeiten auf Ausstellungen zu sehen, u. a. in Kassel, Hamburg und Hannover. Joey Arand lebt und arbeitet in Kassel.

Bernhard Balkenhol, Kurator